02 Mai „Aktion Ungeziefer“: Vor 70 Jahren ließ das SED-Regime zwangsweise Tausende Familien aus dem Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze aussiedeln
Magdeburg, den 30.04. 2022
Dieter Dombrowski, Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG):
„Bis heute verweigert die Politik den Zwangsausgesiedelten die Wiederherstellung ihrer Würde. Wir appellieren ausdrücklich an die Bundesregierung, endlich das exzeptionelle Vertreibungsunrecht mit einer adäquaten Entschädigung zu würdigen. Das eigentliche an den Zwangsausgesiedelten begangene Unrecht, die Vertreibung, ist mit einer zeitlich begrenzten Haft zu vergleichen. Es ist bis heute nicht durch eine pauschale Entschädigungssumme in Form einer Einmalzahlung gewürdigt worden und dadurch immer noch nahezu völlig unbekannt geblieben.“
Birgit Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur:
„Mit der Abriegelung der innerdeutschen Grenze am 26. Mai 1952 errichtete das SED-Regime den ‚Eisernen Vorhang‘ durch Deutschland, der auch ganz Europa für die kommenden Jahrzehnteteilte. Unmittelbare Opfer dieses brutalen Akts waren Tausende zum Teil willkürlich ausgewählte Menschen in der Sperrzone. Sie verloren binnen Stunden, was Generationen zuvor geschaffen hatten, dazu alle Bindungen an Heimat und Verwandte. Es ist unbedingt wichtig, dieses staatliche Unrecht öffentlich anzuerkennen und den Betroffenen die nötige Wertschätzung und Anerkennung zukommen zu lassen. Dazu gehört auch die öffentliche Erinnerung am Grünen Band an die Zwangsaussiedlungen.“
Die Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze, die Ende Mai 1952 im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ begannen, war Thema einer zweitägigen Tagung in Magdeburg, die die UOKG in Kooperation mit der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstaltete. Am ersten Tag standen die Opfer im Mittelpunkt. Zeitzeugen, die zum Zeitpunkt der Zwangsaussiedlungen vor 70 Jahren noch Kinder waren, berichteten von ihren traumatischen Erlebnissen. Im Anschluss diskutierten Betroffenenvertreter unter anderem mit der Bundesopferbeauftragten Evelyn Zupke und der Bundestagsabgeordneten Katrin Budde Probleme und Perspektiven der Wiedergutmachung. Der zweite Tag widmete sich der historischen Aufarbeitung. Mit dem Rostocker Zeithistoriker Prof. Stefan Creuzberger führte Sandra Czech (Historikerin bei der UOKG) ein Podiumsgespräch zu den politischen Rahmenbedingungen der Grenzabriegelungen. Mehrere Fachvorträge vertieften Einzelaspekte der Zwangsaussiedlungen. Der Psychotherapeut und Arzt Dr. Karl-Heinz Bomberg behandelte das schwierige Problem der Traumabewältigung bei den Opfern. Den Abschluss bildeten Beiträge zu den Perspektiven der Gedenk- und Erinnerungskultur zu den Zwangsaussiedlungen am Nationalen Naturmonument „Grünes Band“.
Historischer Hintergrund:
Per Erlass ließ DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl am 26. Mai 1952 die Demarkationslinie an der innerdeutschen Grenze hermetisch abriegeln. Noch am gleichen Tag erließ der Chef der Volkspolizei Karl Maron Verordnung 38/52. Diese zählte eine Vielzahl von Personengruppen auf, die auch unter Anwendung von Zwang aus dem Grenzgebiet ausgesiedelt werden sollten. SED-Funktionäre bezeichneten intern diese Maßnahme als „Aktion Ungeziefer“. Innerhalb eines Monats wurden nach offiziellen Angaben 8.379 Menschen mit LKW und Bahn aus dem Sperrgebiet in das Innere der DDR transportiert. Etwa 2.000 weitere Menschen entzogen sich der Zwangsaussiedlung durch Flucht in den Westen. Gegen die staatliche Maßnahme der Zwangsaussiedlung gab es keine rechtlichen Widerspruchsmöglichkeiten. Dieser gewaltsame Entzug der Heimat stellte einen eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte dar. In der Regel konnten die Betroffenen erst nach der Wiedervereinigung ihre ursprünglichen Wohnorte wieder besuchen.