Aus dem Appell der SED-Opfer an die Ministerpräsidenten vom 24.10.2011
zur geplanten Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes

Sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer,
sehr geehrte Bürgermeister der Stadtstaaten,

als Bundesvorsitzender des Dachverbands der SED-Opfer appelliere ich an Sie, die geplante Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes nicht an der Frage der noch in der Stasi-Unterlagenbehörde beschäftigten MfS-Mitarbeiter scheitern zu lassen.

Dies wäre ein fatales Signal an die Opfer des SED-Regimes.

Ich möchte Sie bitten, sich einmal in unsere Lage, in die Lage der Opfer des schrecklichen SED-Machtapparats hineinzuversetzen:

Das MfS hat uns wegen unseres Freiheitswillens ins Gefängnis geworfen, drangsaliert, gedemütigt, gefoltert und gegängelt. Es hat unsere Biographien, unsere Seelen, teilweise auch unsere Leben zerstört. Die meisten Opfer leiden noch heute unter den Maßnahmen der Staatssicherheit, welche Wunden hinterlassen haben, die unlöschbar in unseren Seelen gespeichert bleiben.

(…) Wir müssen aktuell mit ansehen, wie die Helfershelfer der Täter zu Opfern stilisiert werden. Und warum? Nur, weil sie per Gesetz in gleichwertige Stellen in anderen Behörden versetzt werden sollen! Zu gleichen Bezügen, ohne dass sich ihr gesellschaftlicher Status verändert.

Können Sie sich vorstellen, dass aus unserer Sicht hier etwas aus dem Ruder läuft? Dass die Maßstäbe in dieser Gesellschaft sich verschieben? Wie ist es wohl für jemanden, den nach Jahrzehnten immer noch jede Nacht Alpträume wegen des damaligen Stasi-Verhörs plagen, wenn er hört, dass sich weite Teile der Politik nur für die Handlanger der Täter einsetzen. Wenn er aus bestimmten Kreisen immer wieder hört, dass nun endlich ein Schlussstrich gezogen werden soll. Kann er sich von der Politik ernst genommen fühlen?

Um diese Schieflage zu beseitigen, ist diese Gesetzesänderung notwendig.
Bitte denken Sie nicht, dass uns die Probleme, die mit der Gesetzesänderung verbunden sind, nicht bewusst sind. Uns ist klar, dass es sich bei den betroffenen Mitarbeitern vor allem um niedere Chargen handelt. Uns ist auch klar, dass die betroffenen Mitarbeiter bereits seit zwanzig Jahren unbeanstandet in der Behörde tätig sind.

Wir wollen keine Rache.

Wir wollen lediglich, dass die Behörde, die unsere Akten, unsere Schicksale verwaltet, nun endlich in Gänze frei von Stasi-Mitarbeitern wird. Ich denke, dieser Wunsch dürfte nachvollziehbar sein.
Wir wollen eine ausgewogene, sozialverträgliche Lösung des Problems, welche die Interessen der betroffenen Mitarbeiter ebenso berücksichtigt wie unsere, die Interessen der Opfer, die Interessen derjenigen, für die das Stasi-Unterlagengesetz letztlich geschaffen wurde.

Wir halten den vorliegenden Gesetzesentwurf für eine ausgewogene Lösung. Es ist ja nicht so, dass die Mitarbeiter einfach auf die Straße gesetzt werden sollen, obgleich in der Öffentlichkeit aufgrund der Vehemenz der Verteidiger ein solcher Eindruck entstanden ist.

Nein, die Mitarbeiter sollen ja lediglich in gleichwertige Stellen in anderen Bundesbehörden versetzt werden. Sie müssen dadurch keine materiellen Einbußen oder sonstige Nachteile in Kauf nehmen. Auf der anderen Seite können wir Opfer sicher sein, dass derjenige, dem wir an der Pforte unseren  Personalausweis zeigen, garantiert kein Stasi-Mann ist.

Wir appellieren an das Verantwortungsbewusstsein der Bundesländer, das dringend benötigte Gesetz nicht im Bundesrat scheitern zu lassen. Es wäre ein Rückschritt in der Aufarbeitung und tatsächlich, wie Roland Jahn es ausgedrückt hat, ein Schlag ins Gesicht der Opfer.

Die Länder sollten sich nicht zu denjenigen gesellen, welche die Pfründe der Stasi-Mitarbeiter verteidigen.

Wir appellieren an Sie, in dieser Debatte endlich auch einmal die Stimme der Opfer zu hören.
Wir appellieren an Sie, die Maßstäbe dieser Gesellschaft wieder zurechtzurücken.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Rainer Wagner
Bundesvorsitzender der
Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft