Ein Kongreß der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft UOKG zur Anerkennung haft- und verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden
am 24. Oktober 2009 im Berliner Rathaus

(st)“Wunderbar, daß Sie in diesem Hause sind, gerade in diesen Zeiten!“, begrüßte Dr. Richard Meng als Vertreter des Berliner Senats die Kongreßteilnehmer. Nobelpreisträgerin Herta Müller hatte ein Grußwort geschickt, das Tatjana Sterneberg und Carl-Wolfgang Holzapfel überbrachten. UOKG-Vorsitzender Rainer Wagner betonte, die Verleihung des Preises an Herta Müller sei auch eine weltweite Würdigung der Opfer des Kommunismus.

Den Auftakt der thematischen Beiträge bildete Rechtsanwältin Dr. Ulrike Guckes mit einer vergleichenden Betrachtung von Bundesversorgungsgesetz (BVG) und Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Daß die Behandlung nach beiden Gesetzen höchst unterschiedlich ausfällt, hat sich seit langem herumgesprochen, die Gründe dafür lagen bisher aber für die meisten im dunkeln. In gut verständlichen Worten erklärte Ulrike Guckes die Verschiedenheit der Gesetze hinsichtlich ihres Zweckes. Während das BVG, das auch auf SED-Opfer Anwendung findet, die Abmilderung des Ist-Zustandes anstrebt, also Fürsorgefunktion erfüllt, zielt das BEG, Versorgungsgrundlage für NS-Opfer, auf die Herstellung des vorherigen Zustandes, also auf Entschädigung. Aus diesen grundsätzlich verschiedenen Ansätzen ergeben sich alle weiteren Unterschiede, die sowohl in den Anspruchsvoraussetzungen als auch in der Höhe des Ausgleichs anerkannter Schäden bestehen. Mit einem kurzen Überblick über die historische Entwicklung beider Gesetze zeigte Guckes, daß auch das BEG zunächst unzumutbar hohe Hürden für die Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden errichtete.

Erst 20 Jahre nach Ende des Krieges sei z.B. die sogenannte KZ-Vermutung eingeführt worden, d.h. eine 25-prozentige Schadensvermutung bei allen, die mindestens ein Jahr im KZ inhaftiert waren. Später kamen weitere Zusatzvorschriften hinzu. Daß SED-Opfer nicht bessergestellt werden dürften als NS-Opfer – was häufig zu hören war in der parlamentarischen Debatte um die Opferrente –, sei als politisches Argument weithergeholt, resümierte die Referentin. Bis zur Gleichstellung beider Gruppen wäre es noch ein langer Weg.

Die juristische Praxis bei der Anerkennung haft- und verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden war das Thema der beiden Rechtsanwälte Thomas Illhardt und Brigitte Kögler. Illhardt wies zunächst auf den Widerspruch hin, daß das soziale Entschädigungsrecht Bundesrecht sei, während die Durchführung in der Hand der Länder liege. In den 90er Jahren habe das zuständige Bundesministerium (BMA) ca. acht Rundschreiben verschickt, die auf Mängel in der Umsetzung hinwiesen und Vorschläge zur Verbesserung unterbreiteten, u.a. zentrale Begutachtung und Einsatz besonders erfahrener, geschulter Gutachter. Zu den häufigsten Praxisproblemen zählten der lange Zeitraum zwischen Ereignis und Antrag, fehlende Dokumentation und ungenügende Kenntnisse über posttraumatische Belastungsstörungen. Entscheidend sei die Auswahl des medizinischen Sachverständigen. Von den Betroffenen selbst ausgesuchte Gutachter müßten zunächst auch selbst bezahlt werden. Dafür gebe es keine Prozeßkostenhilfe, eine Rechtsschutzversicherung übernehme allerdings den Betrag. Brigitte Kögler fügte der Problematik des Gutachtens noch die Frage der vor- bzw. nachgelagerten Verfolgungsgeschichte hinzu, die oft existiere, aber von den Betroffenen häufig nicht angesprochen werde. Dann schilderte sie einen Fall ihrer beruflichen Praxis, in dem der Kläger vor dem Bundesverwaltungsgericht erfolgreich war. Dabei ging es um die Anerkennung einer rigiden beruflichen Rückstufung aus politischen Gründen (Az BVerwG 3 C 3604, 19.05.2005).

Nachdem Jorge Vazquez eine Resolution zur Unterstützung kubanischer politischer Gefangener vorgestellt hatte, die von den Kongreßteilnehmern angenommen wurde, referierte Frank Stelter, Dezernent für soziales Entschädigungsrecht, über die Tätigkeit des Brandenburger Landesamtes für Soziales und Versorgung. Im Anschluß an seine recht nichtssagende, weil rein theoretische Darlegung der Aufgaben des Amtes gab er immerhin zu, ihm sei bewußt, „daß manche Verwaltungsabläufe effektiver im Sinne der Betroffenen ablaufen könnten.“ Als er dann aber mehrfach behauptete, die Bearbeiter im Land Brandenburg seien geschult und geeignet, schlug ihm das aus praktischen Erfahrungen gespeiste, bittere Lachen des Publikums entgegen. Allerdings wies er an mehreren Punkten überzeugend nach, daß die Durchführung in den Ländern generell immer wieder an die Grenzen der bestehenden Gesetze stößt.

Jörg Volland und Werner Oswald vom Sozialministerium Thüringen konnten ihr Bundesland als positives Gegenbeispiel präsentieren. Thüringen gilt als Vorreiter bei der Anerkennung haft- und verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden. Auch wenn die beiden Beamten ebenfalls die engen rechtlichen Grenzen für vieles verantwortlich machen mußten und eine nachhaltige Verbesserung nur durch weitere politische Schritte für erreichbar hielten, stellten sie doch eine Reihe von Maßnahmen vor, die der Freistaat in eigener Verantwortung ergriffen hat. Vor allem bei psychischen Schäden setze man ausschließlich sehr erfahrene Gutachter ein, auch die Versorgungsärzte würden entsprechend geschult. Alle Verfahren bis zum Jahr 2003 seien in einem Dreistufen-Verfahren erneut geprüft worden, durch Rotation zwischen den drei Thüringer Versorgungsämtern, anschließende Überprüfung durch das Landesamt, dann Einzelfallprüfung der obersten Behörde. Als besonders erfolgreich habe sich erwiesen, daß an den Beratungen Vertreter der Stasiunterlagen-Behörde und der Opferverbände als Externe beteiligt wurden. Aus den statistischen Werten, die Volland und Oswald vortrugen, ergab sich für Thüringen eine durchschnittliche Anerkennungsquote von etwa 33 Prozent. Dieses Ergebnis honorierte das Publikum in einer emotionalen Diskussion mit dem dringenden Wunsch, man möge doch in den anderen Bundesländern die Verfahrensweise Thüringens übernehmen.

Wissenschaftliche Grundlagen der „Extrembelastungsfolgen bei Opfern politischer Gewalt“ erläuterte Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker vom psychologischen Institut der Universität Zürich, selbst ehemaliger politischer DDR-Häftling. Er begann mit Faktoren, von denen die Folgen erlittenen Unrechts abhängen: Häufigkeit der Traumatisierungen, zufällig oder intendiert erlittenes Trauma, Dauer der oppositionellen Situation, Verhältnis von physischer und psychischer Folter, Überraschungssituation der Verhaftung, Todesangst in der Haft, physische bzw. psychische Gewaltandrohungen, Isolation, Dauer der Haft, Kontakte zu Angehörigen, Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem „falschen juristischen Spiel“, nach der Haft Schweigegebot, Diffamierung und Ächtung. Dies alles hätte nicht nur Beschädigungen zur Folge, sondern psychische Veränderungen der Gefühle, Gedanken und Motivationen. Nichts mehr sei so, wie es war. Eine umfassende wissenschaftliche Studie habe ergeben, welche Umstände am stärksten zu einer Ausbildung posttraumatischer Belastungsstörungen beitrügen: neben Lebensstreß nach dem Trauma, geringer Intelligenz, geringem Sozialstatus, frühen traumatischen Erlebnissen usw. vor allem fehlende zwischenmenschliche Unterstützung und fehlende gesellschaftliche Anerkennung.
Maercker ging dann auf einen Aspekt ein, der im Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen eher selten genannt wird, auf die „Reifung“, das persönliche Wachstum. Betroffene hatten als Folgen des erlittenen Unrechts auch genannt: höhere Wertschätzung des Lebens, Zuwachs an Menschenkenntnis, Zuwachs an Selbstvertrauen, Erkenntnis neuer individueller Möglichkeiten und spirituelle Veränderungen. Dabei betonte Maercker, diese Reifung trete nicht an Stelle der Belastungsstörung, sondern gleichzeitig mit ihr auf. Sein Fazit lautete: Letztlich bleibt das Erlebte unauslöschlich, und der Grad zwischenmenschlicher Unterstützung sowie gesellschaftlicher Anerkennung bestimmt das Ausmaß des späteren Leidens.

Ein Podiumsgespräch zwischen Dr. Ruth Ebbinghaus, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. Karl-Heinz Bomberg, Facharzt für Psychotherapie, und Stefan Trobisch-Lütge, Psychologe in der Beratungsstelle „Gegenwind“, moderiert von Rainer Wagner, offenbarte am späten Nachmittag das ganze Ausmaß unhaltbarer Zustände bei der Begutachtung vor allem posttraumatischer Belastungsstörungen. Ruth Ebbinghaus, inzwischen bundesweit bekannt für ihre wegweisende Gutachtertätigkeit und ihr großes Engagement für eine adäquate Begutachtung durch die Ämter, zählte allein aus den letzten zwei Jahren Beispiele auf wie aus dem Horrorkabinett: Begutachtung in einer forensischen Abteilung, Begutachtung in der Tonlage eines Vernehmers, Tonbandmitschnitt während der Begutachtung, Attestierung paranoider Schizophrenie nach der Schilderung von Verhältnissen in der DDR, weil der Gutachter nicht glaubte, daß es so etwas gegeben habe usw. Auch Karl-Heinz Bomberg, der in den Tagungspausen eigene Lieder zur Gitarre vorgetragen hatte, stellte fest, daß viele Betroffene auf dem versorgungsrechtlichen Weg therapeutische Begleitung brauchen, um ihn überhaupt zu überstehen. Und er wußte, wovon er sprach, denn auch er war politischer Häftling in der DDR. Die Erfahrungen seien mehrheitlich negativ, und es stelle sich immer wieder die Frage, woher die einzelnen Gutachter eigentlich kämen. Stefan Trobisch-Lütge bemängelte die unkritische Übernahme von DDR-Beurteilungen, z.B. lange Zitate aus Haftbeurteilungen ohne Kommentar, willkürliche Auslegung des „Kausalitäts“-Kriteriums und auf völliger Unkenntnis basierende Einschätzungen des Verhaltens Betroffener bei der Begutachtung. Geändert werden müsse, waren sich die Gesprächspartner einig, Qualität und Tempo der Gutachterverfahren sowie die Transparenz bei der Begutachtung. Darüber hinaus bestehe die Notwendigkeit, nicht-strafrechtliche Repression anzuerkennen, zentrale Begutachtungsstellen einzurichten und vor allem in einem 4. UBG die Beweislastumkehr einzuführen. Hier sei der Gesetzgeber gefordert.

Nach einem sehr einfühlsamen Vortrag Julia Stephans, Mitarbeiterin eines Hilfsprojekts für Menschen mit Spätfolgen seelischer Traumatisierungen in NRW, über Echtheit, Akzeptanz und Empathie als Grundeinstellungen beim Umgang mit Betroffenen, traf endlich die „politische Ebene“ in Person der Bundestagsabgeordneten Andrea Voßhoff (CDU) ein, abgehetzt, aber guter Dinge und mit dem druckfrischen Koalitionsvertrag in der Hand. Bereits seit 20 Jahren werde die Verbesserung der Anerkennung haft- und verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden gefordert, und nun ginge es um die praktische Umsetzung. Sie sei überzeugt, daß in dieser Legislaturperiode einiges bewegt werden könne und empfahl den Opferverbänden, einen konkreten Handlungsauftrag zu erstellen, um Defizite auszugleichen.

(Die UOKG plant, aus den Kongreßbeiträgen einen Tagungsband zu erarbeiten.)